ZWISCHENZEILIG 2

 

Aus dem Roman "Fische sprechen unter Wasser lauter" / Vorschau

Lebenslinien (vorab aus Kapitel 4)

Hanne ist putzmunter und stemmt ihre stämmigen Beinchen beherzt und bedenkenlos in Herwigs Unterleib. Zwei unerklärliche Gaben dreijähriger Kinder: zu früh wach sein, zu kräftig treten. "Aquaium! Aquaium!" skandiert der aufgekratzte, ausgeschlafene und blendend gut gelaunte, hubbelige Fratz. Sie weiß genau, wo Herwig am verwundbarsten ist (nächste Kleinkindergabe) und ihr Kneifen, Reiben und Knuffen an seinen Ellbogen versetzen ihn in ein frühmorgendliches um Hilfe lachen. Das hysterisch lustige Toben hat auch Kurti aufgeweckt. Dieser fühlt sich aufgefordert mitzuspielen und landet mit einem beherzten Sprung im verbotenen Bett, mit allen Vieren in Herwigs Unterleib. Gut, dass er Hanne bereits gezeugt hat. Das schamhaarige Ungetüm hat seinen Körper und seine Koordination nicht unter Kontrolle. In Herwigs Gesicht eine einzige gelockte, raue, borstige Doodle-Haar- Invasion. Seine reflexartige Gegenwehr äußert sich mit ausgestreckter Zunge zu einem beherzten "Pfäh", was sich als fataler Fehler erweist und vielmehr in ein erneutes, mehrfaches "Pfäh, Pfäh, Pfäh", mit gekräuselten Hundehaaren auf Herwigs Zunge mündet. So weit so gut und alles normal an einem Samstagmorgen mit einer Dreijährigen und einem dodeligen Labradoodle.

 

Bevor sich Tochter und Vater ins Haus der Fische auf den Weg machen, noch schnell die üblichen, alltäglichen Dinge und Kleinigkeiten, die morgens so zu erledigen sind. Standardprozedere. Herwig hält zwischendurch für einen Seufzer lang inne und fragt sich ungläubig, ob Valerie und alle anderen Mütter auch dieses Programm tagtäglich absolvieren und wie in Herrschaftsgottes Namen das zu schaffen ist, ohne nicht komplett irre, kirre und gaga zu werden? Wann steht sie auf? Um drei Uhr früh? Und was wirft sie sich ein, um nicht kurz nach 9 Uhr an der Gemüsetheke bei Ofners schnarchend mit ihrem Gesicht im Bio-Blattspinat aufzuschlagen?

 

Hanne und Hund aus dem Bett, Hanne Klo, Herwig Klo, anziehen, lüften, Spiegel Zunge zeigen, Hanne anziehen, Kurti anleinen, Kurti Klo, kurze Runde Lulu und AA, AA in Kotbeutel, Kotbeutel entsorgen, noch mehr Lulu und nicht nach Hause wollen, Pfoten abwischen, füttern, frisches Wasser bereitstellen, immer ein Auge auf Hanne, man weiß ja nie, Hanne Kaukau, Hanne Banane und Apfel zurechtschneiden, Kaffee für Herwig, zwei Scheiben Toast toasten, buttern und Marmelade darauf, Hanne Messer wegnehmen, Kurti würgt irgendetwas aus seinem Schlund, Hanne Herwigs Handy wegnehmen, Hanne AA, Hanne AA entsorgen, Hanne AA Popo sauber wischen, Kurtis verschleimten blauen Ball entsorgen und aufwischen, Herwig AA, alle Zähneputzen außer Kurti, Hanne Rasierapparat wegnehmen, Hanne umziehen, Strumpfhose kratzt, Paketdienst öffnen, Hanne weint, bellenden Kurti vor Paketboten wegsperren, Hanne mag ein Eis, Herwig neue Nerven, Hanne will zu Mama, Hanne will, dass Momisa mitkommt ins Aquaium, Hannes Finger passen genau in ihre Nasenlöcher, Herwig zweiter Kaffee, Hanne hat was in ihrer Nase gefunden, Hanne Popel wegnehmen, Hanne will auf Kurti zum Aquaium reiten, Kurti hat Glück, Herwig hat das Sagen, Hanne will los, Herwig will Hilfe. "Aquaium! Aquaium!" und schon geht‘s los. Meerjungfrau vergessen. "Aquaium! Aquaium!" jetzt aber wirklich. Los.

 

Sie haben es doch noch geschafft und am Weg zu Hannes kaum noch zu erwartendem Wiedersehen mit ihren Fischen bestätigt sich Herwigs erhoffte Vermutung. Seine Gefühle, so wie sie sein sollen, sein Empfinden, so wie es sein soll und sein Verhalten seiner Tochter gegenüber, sind seit gestern immer noch so wie sie sein sollen. Er weist seine Tochter an ihrem rechten Ärmchen, in ihrer Linken tänzelt die kleine Meerjungfrau ungestüm hin und her. Herwig ist stolz, wie er es seit drei Jahren sein könnte. Er ist Vater und am liebsten würde er mit einem Schild durch die Fußgängerzone, mit der Aufschrift "Ich bin Papa" inklusive fettem, rotem Pfeil, der zu seiner Tochter weist, herumlaufen. Lieber spät als nie. Mal nicht so sein.

 

Herwig fühlt sich so zufrieden, ausgeglichen und glücklich wie nie zu vor. Nicht diese Art von einem Streifschuss des Glücks nach einer erhaltenen Aufmerksamkeit oder einem lieben Kompliment. Kein Glücksmoment für die Dauer eines Wimpernschlags, weil man sich etwas Teures gegönnt hat oder "Ich liebe Dich" gesagt hat. Kein Glücksblitz, der einen ohne Grund, Ursache und Auslöser trifft, durch Mark und Bein fährt und im selben Augenblick schon wieder fort ist. Kein flüchtiges Glück auf Kurzbesuch. Kein eiliges "Hallo, ich bin es Dein Glück". Herwig empfindet ein existentielles, substanzielles, universelles Glücklichsein in sich. Von Momentaufnahme kann keine Rede sein.

 

Wenn schon kein Papa-Schild, dann wenigstens in die Welt hinausschreien, die Welt umarmen, die Welt entdecken. Mit anderen Augen, mit den Augen eines Kindes, mit Hannes Augen. Apropos: "Aquaium!" Die drei (Herwig, Hanne und die Meerjungfrau) sind angekommen und relativ zügig ins Innere des Hauses der Fische gelangt. Der Andrang an Samstag Vormittagen ist zumeist recht heftig. Omas, Opas, Wochenende-Väter, alleinerziehende Mütter und auch vereinzelte normale Mütter und Väter, Paare mit ihren kleinen Stöpseln am Ziel ihrer magischen Unterwasserwelten-Träume.

 

Die Verantwortlichen wissen das hier und dank der guten Organisation, die meisten Eingänge und Durchlässe sind besetzt und geöffnet, löst sich die Menschentraube rasch auf. Die beiden clever platzierten Kinder-Magneten links und rechts vom Eingangsportal erfüllen ihren Zweck vorbildlich, indem sie einen Großteil der kleinen Besucher, noch bevor der erste Fisch gesichtet wurde, mit unsichtbaren Kräften zu sich ziehen. Rechts der verführerische Franchise-Laden mit den ulkigsten und schrägsten Fische- und Meeresbewohnerutensilien, die einem einmal einfallen müssen. Von der plüschigen Sägehai-Haube, über Rucksäcke in Form einer Wasserschildkröte, einer Robbe, eines Kugelfisches und eines U-Bootes, bis hin zu Rückenflossen, Schwanzflossen, Haifischflossen, mit universal verstellbaren Gurten, Klettverschlüssen, Haken, Karabinern und Riemen, zum sicheren Verzurren und Fixieren an verschiedensten Kindergliedmaßen in welcher Größe auch immer. Da gibt es im Haus der Fische auch außerhalb der Wasserbassins so einiges Kurioses zu entdecken, ha, ha.

 

Links der ziemliche coole Vintage-Caravan mit der nicht zu übersehenden Korallen- Unterwasserlackierung. Hier sind neben den üblichen, überteuerten, überzuckerten Kinderdrinks in dreieckigen Quetschtüten, quadratischen Tetra Paks und Einweg-Plastikflaschen auch Kaffee, Tee und Stärkeres für überfordertes, übermüdetes, überstrapaziertes Aufsichtspersonal zu erstehen. Was es alles gibt. Zum Mitnehmen und Eintüten vor dem Besuch: Fruchtgummis in sämtlichen Farben und Ausführungen, mit Feinzucker süßsauer umhüllt oder bäuchlings mit weißem Softschaum ummantelt. Wasserschlangen, Aale, Muränen, Haie in sämtlichen Versionen, Seesterne, Seepferdchen, Seeungeheuer, Orcas (pink?), Clownfische, Rochen, Quallen, Delfine, Garnelen, Muscheln und Riesenkraken. Von Puffreis- Plankton ganz zu schweigen.

 

Zum krönenden Abschluss nach dem Besuch, damit man auch wirklich alles Bargeld ausgegeben hat und die Kinderklamotten unter Garantie nicht fleckenfrei nach Hause zu bekommen sind, wird aus dem 60er-Jahre-US-Caravan folgendes feilgeboten: Große-Krabbe-Burger (nach Schwammkopf-Art, mit extra Käse, Mayo und Zwiebel), Hammerhai-Happen (panierter Fisch, Mayo, Tomate und Salat), Vegane-Venus (knusprige Tempeh-Schnitte mit Hummus und Gurke), heiße, fettige, frittierte Krapfen in Fischform, Falafel-Bojen, Apfel-Ringe-Schwimmreifen und Garnelen im Teigmantel. Dazu eine unüberschaubare Auswahl an Saucen, Dips, Chutneys in verrückten Farben, verrückten Geschmacksrichtungen und verrückten Preisen. Abschließend natürlich der Klassiker schlechthin: Pommes rot-weiß. Viel rot-weiß. Die Verantwortlichen wissen auch, wie man sich Freunde und Geld macht.

 

Diesen kostspieligen und nervenaufreibenden Hürdenlauf haben sie sich, zumindest für heute, erspart. Nicht nur Hannes Mund steht weit offen. Auch Herwig ist immer wieder aufs Neue fasziniert und begeistert. Man taucht, im wahrsten Sinne des Wortes, in eine verborgene, atemberaubende Welt ein und unter. Es gibt so viel zu sehen und jede Menge Interessantes zu entdecken. Man wird nie fertig. Jeder Besuch lohnt sich aufs Neue, jeder Tag bei den Fischen ist anders und einzigartig, und das ist gut so.

Die Kleine dokumentiert und berichtet ihrem Papa jede Sichtung. "Da und da, schau und da, was ist das, schau, so schön. Papa, Papa, da!" Herwig kann viele der eiligen Helden hinter dem Glas benennen. Alle anderen, mit teils unaussprechlichen Namen exotischer Exemplare und deren lateinische Fachbegriffe, liest er Hanne von den bunten Infoschildern ab. Auch für einen Fisch Fisch wie Herwig, ein lehrreicher Ausflug mit immer neuen Erkenntnissen und Eindrücken. Herwig fühlt sich unter dem gedämpften, blauen Licht daheim. Neben den sanft verlaufenden Farbtönen vom dunkelsten Schwarzblau bis hin zum leuchtenden Türkis und Smaragdgrün und den fabelhaften Lichtspiegelungen bannen ihn vor allem die verschiedenen Fortbewegungsstile und Tempos hinter den Unterwasser-Schaufenstern. Nasenrochen fliegen schwerelos vorüber, Adlerrochen vergraben sich mit elegantem Fächern ihres Körpers in den Sand. Muränen haben keine Eile, Drückerfische, Makrelen und Brassen verschiedenster Arten bewegen sich hingegen situationsbedingt ruckartig und pfeilschnell. Putzgarnelen und Einsiedlerkrebse flanieren gemächlich über den feinkörnigen Kies und sorgen stets für Heiterkeit und gute Laune. Die schimmernden, bunten, kleinen, unwiderstehlichen Anemonenfische, Kaiser-, Falter-, Klapp-, Koffer- und Pinzettenfische, allesamt ohnehin beneidenswerte Alleskönner. Von Schönsein ganz zu schweigen.

 

Hanne ist aufgeregt, quengelig, aber in keinster Weise nervig. Man kennt es ja, wenn Kinder kurz vor dem Durchdrehen sind, sich nicht mehr einkriegen, nicht mehr zu bremsen sind und hysterisch von einer Glasscheibe zur anderen rennen und von gleichgültigen Eltern ungetadelt daran klopfen, hämmern und sich völlig danebenbenehmen. Herwig flaniert mit seiner Kleinen durch die abenteuerlichen Gänge, beschattet von bizarren Geschöpfen auf der anderen Seite. Zwischendurch läuft sie los, zeigt auf etwas Interessantes, entdeckt eine neue Spezies und weiter geht‘s. Das machen sie gut, die beiden. Die Drei, ha, ha.

 

Zwillingsmädchen aus der Kita entdecken die beiden und gleich dahinter tauchen auch die Eltern auf. Der Vater lächelt, der Gesichtsausdruck der Mutter sagt eher: "Wäre ich doch nur zu Hause geblieben. Nerv!" Herwig kann sich ein Schmunzeln verkneifen und muss dabei kurz an Monika denken. Den genervten Gesichtsausdruck kennt er nur zu gut von Valeries bester Freundin. Herwig kann sich beim besten Willen nicht an die Namen der unterschiedlich gelaunten Eltern erinnern. Das Gespräch verläuft glücklicherweise ohne peinliche Pannen. Die drei Mädels möchten aber kurz gemeinsam zu den Schildköten. Das dürfen sie auch für eine Viertelstunde mit dem Zwillingspapa. Die Mama braucht eine Pause beim Caravan und etwas Stärkeres. Herwig warte hier auf der Bank, passt auf sich und die Meerjungfrau auf.

 

Ohne eigenes Zutun schaltet sich Herwigs integrierte Mute-Taste ein und sein Gehör aus. Sein Blick und seine Gedanken tauchen tief ins sichere Aquablau. Verwandt, vertraut und verbunden. Herwig sitzt im Trockenen, auf einer Bank, und trotzdem vermag er zu fliegen. Gleitet schwerelos wie der Rochen zuvor. Gestern noch wäre er auf der anderen Seite der Scheibe besser aufgehoben gewesen. Heute ist er auf dieser Seite genau richtig, und das ist gut so. Schon nicht zu verstehen, manchmal, das Spiel des Lebens. Noch weniger, gut gemeinte Hiebe und Schubse, die es braucht, um richtig abzubiegen oder einfach stehenzubleiben, sich umzusehen und umzudrehen. Ein Pärchen gelber Segelflossendoktoren umkreist sich eifrig, schwimmt und tänzelt seinen Unterwassertanz, verliebt, verspielt und verzückt. Ein Weibchen und ein Männchen bieten Herwig eine exklusive, herzerwärmende Revue und laden ihn ein, ruhig zuzusehen. Er versteht den Wink, muss nicht lange gebeten werden und bestaunt den melodischen Liebestanz in reflektierendem Gelb. Zwei größere Exemplare unterbrechen das homogene Duo und stören das harmonische Umgarnen. Herwig denkt an Valerie, an Moni und Alexandra.

 

Seine unruhigen Gedanken, seine Unsicherheit und vor allem seine Wandlung, erst gestern an Hannes Geburtstag, ergeben langsam einen Sinn und formen in Herwigs Kopf und Herz klare Bilder. Seine vor ihm offen liegende zweite Lebenshälfte, bisher ohne große Vorausschau und Fantasie im trüben Schwarz und Dunkel liegend, erhellt sich in erste, schüchterne Lichter. Eröffnet Einblicke und schemenhafte, schöne Aussichten mit Struktur, Substanz, Silhouetten und spiegelt bekannte Gesichter auf der ruhigen, gekräuselten Wasseroberfläche. Wie leuchtende, wegweisende Sonnenstrahlen, die ihre kräftigen Neonröhren energisch in die Tiefe tauchen und das dunkle Wasser nach oben hin in eine klare, transparente Flüssigkeit verwandeln.

In Monika hat er sich wie ein dummer, hormongesteuerter Teenager verguckt und immer wieder romantisch, erotisch und schwanzgesteuert in ihre Arme, in ihren Schoß geträumt. Verwerfliche Gedanken, aber keine verabscheuungswürdigen Taten. Er ist nur ein Pimmelmännchen. Das weiß er ja bereits. Nicht besser und nicht schlechter als alle anderen, lächerlichen Pimmelmännchen. Lächerlich kommt ihm jetzt seine Schwärmerei für eine zickige, nervige, zwar attraktive, aber alberne Frau vor, mit der man mit großer Wahrscheinlichkeit ein befriedigendes Abenteuer erleben kann. Und das war es dann aber auch schon wieder. Schön, dass Valerie eine beste Freundin hat. Schön, dass er sich für die eine entschieden hat. Schön, dass er die andere, hier und jetzt, für ein und allemal hinter sich lassen kann.

 

Einer der Segelflossendoktor Eindringlinge hat sich verzogen und von dem verliebten Paar abgelassen. Nur noch einer stört das aufgescheuchte Paar in ihrer Choreografie und gibt keine Ruhe. Ruhen lässt Herwig seine Vergangenheit. Er ist jetzt, so wie mit dem Vater Sein, mit einiger Verspätung bereit dazu.

 

Besser spät als nie, vielleicht sein hilfreiches, neues Credo. Die Zeit mit Alexandra war gut. Daran ändert sich nichts. Alles, was ihn mit ihr verbindet, was sie gemeinsam erlebt haben, alles, woran er sich erinnern kann, ist in ihm gespeichert und bleibt ein Teil von ihm. Für immer. Es war einmal, es ist vorbei und er kann es dabei belassen. Herwig löst dieses Band, ohne jemanden im Stich zu lassen und um sich selbst zu befreien. Ihm gelingt jetzt, was seiner Lexi bereits vor Jahren gelungen ist. Sie lebt ihr Leben, und das ist gut so. Es wird Zeit, dass auch er sein eigenes lebt. Valerie und Hanne. Seine Mädchen. Sein Schatz. Seine Familie. Sein Leben. Schön, dass auch er es endlich kapiert. Mal nicht so sein.

 

Das stärkere und schlauere Weibchen vertreibt den zweiten Störenfried energisch und kehrt zu seinem dummen, schmächtigen Geliebten zurück. Die wundersame Tierwelt als entblößtes Spiegelbild humanitärer Banalität. Wie ein stummes Dankeschön, sein sanftes hin und her Schwimmen, das Streichen seiner Flossen an ihren Flanken, an seiner tapferen Heldin. Das gelbe Segelflossendoktor-Pärchen tänzelnd gemeinsam weiter. Herwig versteht die beiden. Fische sprechen unter Wasser lauter, ohne ein Wort zu sagen.

 

Das gelbe Ballett schwebt lautlos in den dunkelblauen Hintergrund des künstlichen Meeres und Herwig hörbar, laut und deutlich zurück ins Hier und jetzt. "Papa, Papa, schau!" Hanne läuft ungebremst in Herwigs Arme und zeigt ihm ihre gefleckte, schielende Miniatur-Schildkröte aus Plüsch. Gleich dahinter die beiden Zwillinge, ebenso mit neuen Stofftier-Freunden ausgestattet und genauso happy. Ihr Papa dahinter hebt unschuldig seine Schultern. Da war nichts zu machen. Das glaubt ihm Herwig gerne. Von standfest und überzeugend Nein zu sagen kann keine Rede sein. Von kleinen Mädchen Wünsche abschlagen, ganz zu schweigen. Herwig führt mit dem Vater ohne Namen noch den üblichen Smalltalk, Kindergeschichten, nächste Woche wieder Kita und man sieht sich ja ohnehin bald wieder. Danke nochmal für die Stofftier-Schildkröte, die bereits um den Hals der Meerjungfrau baumelt. Ein schönes Wochenende. Wie immer er auch heißen mag.

 

Der mittlerweile gestürmte und überrannte Shop mit den ausgefallenen Fischkram- Kostümen und nutzlosem Zubehör "Made in Taiwan" taucht jetzt beim Hinausgehen linker Hand auf. Rechts, beim Anhänger für den kleinen Hunger zwischendurch und das große Bauchweh für etwas länger, geht es etwas beschaulicher zu. Mit zwei Quetschtüten-Säften, Erdbeergeschmack für Hanne, Herwig hat sich wagemutig für Litschi entschieden - ein Fehler - und einem guten halben Kilo Gummiteile "Best of Südsee" geht es weiter. Die ausgewählte Fruchtgummi-Mischung, ohne tierische Gelatine und gesüßt ausschließlich mit Honig und Agave, den Zähnen zuliebe. Unerheblich, denn die einheitlich schmeckenden Delphine, Seesterne und Korallenteilchen kleistern Herwigs Kronen und Keramikfüllungen mindestens so lange zu, wie das Bauchweh bei den mit Rot-Weiß-Pommes vollgestopften Kindern dauern wird.